Definitionssache
Cornelis Kater Arno Wulfinger verließ das Lehrerzimmer mit einem unguten Gefühl. Vielleicht war er zu weit gegangen. Was ihm noch vor einigen Tagen als strenge, jedoch angesichts der Umstände faire Maßnahme vorgekommen war, erschien ihm nun als Akt der Willkür, die seiner persönlichen Lage geschuldet war. Wulfinger war Lehrer. Deutsch, Sport und Geschichte, zugelassen für den Unterricht an Gymnasien. Stolz war nicht darauf. Er hielt sich nicht für schlecht, aber auch für alles andere als gut. Die Schüler respektierten ihn, meistens. Gelegentlich aber auch nicht. Woran es genau lag konnte er meist nie so ganz herausfinden. Vielleicht lag es an seinem persönlichen Biorhythmus. Oder den Vorhandensein oder Nichtvorhandensein gewisser instabiler Pole im sozialen Gefüge der Klassen, die er unterrichtete. Vielleicht fehlte ihm auch schlichtweg Humor und Motivationsfähigkeit. Oder einfach: Es gelang zuweilen nicht, Berufliches und Privates oder Gefühle und Professionalität zu trennen. Manchmal war er einfach launisch, und, so fürchtete er auch jetzt wieder, einfach ungerecht. Vor einigen Wochen wurde er nach einer Diskussion, die ihm noch immer absonderlich und wie ein emotionaler Sturz von einem Zehn-‐Meter-‐Sprungturm in ein leeres Schwimmbad vorkam, von seiner langjährigen Freundin verlassen. Oder hatte er sie verlassen? Oder hatten sie sich beide sich voneinander getrennt, einvernehmlich, wie es immer so schön heisst? Er wusste es nicht mehr. Sie hatten zugleich eine Hochzeit und eine Beerdigung beobachtet und eine skurrile aber dennoch ernste Diskussion geführt, die er seitdem zu rekonstruieren versuchte. Es gelang ihm nicht. Es blieb nur das dumpfe Gefühl, das nur ein paar andere Worte an entscheidenden Stellen die Diskussion auch ganz anders hätte ausgehen lassen. Ursprünglich hatte er sogar vor, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Er seufzte. Allmählich war ihm das Gespräch egal. Er konnte sich nicht vernünftig erinnern, seine Freundin war weg, seine Wohnung vernachlässigt, sein Bart zu lang und sein Deo seit Wochen verbraucht. Seinen tief sitzenden Frust hatte er in der letzten Klassenarbeit seiner aktuellen 10. Klasse abgeladen. Das Thema, dass er mit den Schülern, abgesprochen hatte, war das Schreiben einer Definition gewesen. Er hatte ihnen in der letzten Stunde, die der Arbeit vorausging, einen Begriff versprochen, den jeder von ihnen kennen würde und nur sieben Buchstaben lang werden würde. Schließlich hatte er sie den Begriff deutsch definieren lassen. Als er die Arbeit entwarf, hielt er es noch für eine angemessene Maßnahme, das unmotivierte, zuweilen freche und in bestimmten Momenten sogar aggressive Verhalten der Schüler ihm gegenüber zu sanktionieren. Der Begriff sei an sich nicht schwer, so rechtfertigte er sich nach dem Austeilen der Aufgabe und dem Murren, welches sich daraufhin verbreitete. Wenn überhaupt, sei das Problem nur die Vielfältigkeit der Denkrichtungen, aus denen eine Definition angegangen werden könne. Die Schüler sollten einfach einmal ihrer Kreativität freien Lauf lassen und aufhören zu jammern. Damit hatte er sich hinter seiner Zeitung und einer Thermokanne schlecht gebrühten Kaffees zurückgezogen und die Schüler schreiben lassen. Viel zu schreiben hätten sie ja nicht, vielmehr zu denken, dessen bekräftige er sich mit jedem zweiten Schluck Kaffee. Genug Zeit also, innerhalb der angesetzten 90 Minuten in sich zu gehen und in Ruhe die Definition zu konstruieren.
Wulfinger stand nun vor der Tür des Unterrichtsraumes. Die Arbeit war korrigiert, wenn man das überhaupt so nennen konnte. Er hatte sich dazu zunächst eine Definition aus einem bekannten Lexikon herausgesucht, was er aus Faulheit und Unwillen nicht für nötig gehalten hatte, bereits vor dem Stellen der Aufgabe vorzunehmen. Wenn er ehrlich gegenüber sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass keiner der Schüler eine gute Note verdient hatte. Auch nicht die Autoren der Definition des Lexikons. Also hatte er die Musterlösung erweitert, umgeschrieben und ergänzt, bis eine seiner Meinung nach brauchbare Definition des Begriffes entstanden war. Er öffnete die Tür, und steuerte seinen Platz an der Stirnseite an, ohne die Schüler zu betrachten, wie es seine Art war. Erst jetzt drehte er sich mit einem Ruck, der an diesem Tag etwas übertrieben ausfiel, zu ihnen herum, knallte die Hefte auf den Tisch und verzog viel zu bewusst einige Hautregionen, was so etwas wie ein Lächeln ergeben sollte. „Hallo zusammen. Wie ihr seht, habe ich die Arbeit mit euren Definitionen des Wortes deutsch korrigiert.“ Der übliche Lärmpegel sank überraschend schnell. Wulfinger wusste, dass bei einigen Schülern das Ergebnis der Klassenarbeit die Endnote und damit auch die Eignung zu einer Versetzung bestimmen würde. Mindestens drei Schüler hatten ihn nach dem Schreiben der Arbeit darauf hingewiesen, dass sie das Thema für unangemessen hielten, da der Begriff nicht definierbar sei. Er hatte diese Kritik in etwa mit den gleichen Argumenten übergangen, wie er sie auch nach dem Austeilen der Aufgaben genutzt hatte. Bereits zu diesem Zeitpunkt waren ihm erste Zweifel gekommen, ob er die richtige Strategie gewählt hatte. Es war also offensichtlich, dass die Schüler sowohl das Ergebnis als auch die präsentierte Lösung im Rahmen der nun folgenden Besprechung äußerst neugierig erwarteten. „Lassen wir uns sofort beginnen. Um es vorweg zu nehmen: Die Lösungsansätze hätten unterschiedlicher kaum sein können. Ich will euch zur Einstimmung ein Beispiel geben, welches zwar einen vertretbaren Ansatz wählt, dann jedoch viel zu kurz greift und es schließlich an einer gewissen Ernsthaftigkeit vermissen lässt: ‚Deutsch sind die ureigenen Tugenden und Dinge, die eng mit Deutschland verbunden sind. Zu den Tugenden gehören Disziplin, Ordentlichkeit, Pünktlichkeit, Kampfesstärke. Eng mit Deutschland verbunden sind Fußball, Saufen (Ballermann), Sauerkraut und Eisbein, und das Oktoberfest.’“ Einige Schüler lachten, andere, denen das Ergebnis wichtiger war oder die die Arbeit auf ähnliche Art und Weise gelöst hatten, rutschen nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Wulfinger vermied es, den Schüler anzusehen, der diese Definition und damit die schlechteste Arbeit geschrieben hatte. „Um uns der Lösung zu nähern, will ich euch noch einen etwas weiter gehenden Ansatz vorlesen: ‚Deutsch ist die Zugehörigkeit zu der sozialen Großgruppe der Deutschen, die durch die Gemeinsamkeit von Abstammung, Wohngebiet, Sprache, Religion, Welt-‐ und Gesellschaftsvorstellungen, Rechtsordnung und Staatsgewalt, Kultur und Geschichte sowie durch die Intensität der Kommunikation bestimmt ist. Nicht immer sind alle Merkmale vorhanden; entscheidend ist, jedoch die Überzeugung der Angehörigen dieser sozialen Gruppe, sich durch ihr Anders-‐ und Besonders sein von allen anderen Nationen zu unterscheiden.’ Diese Definition bietet schon einmal eine gute Grundlage, auf die man aufbauen kann. Jedoch stören immer noch zwei eklatante Fehler: Der Autor zielt hier nur auf
Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ab. Der Begriff deutsch umfasst jedoch weit mehr, als die Zugehörigkeit einer Person zu einer sozialen Gruppe. Denkt nur an die deutsche Kultur, deren Eigenschaften, die sich von denen anderer Kulturen eindeutig unterscheiden, ebenfalls als deutsch bezeichnet werden. Schön an diesem Definitionsversuch ist jedoch die Nennung der bestimmenden Merkmale für den Begriff deutsch wie eben Abstammung oder Gebiet, Sprache, Religion und Gesellschaftsvorstellungen. Leider geht der Autor nicht weiter auf diese Merkmale ein; er nennt diese nur. Hier sollten die Merkmale auch jeweils mit Inhalt gefüllt werden.“ Er spürte das Raunen, das durch die Schüler ging. Er kannte diese Reaktion aus unzähligen Besprechungen: Immer wenn er konkret wurde und Aspekte nannte, die seiner Meinung nach in eine Arbeit gehört hätten, begannen die Schüler, die diesen Punkt definitiv nicht berücksichtigt hatten, ihre Nachbarn zu fragen, ob diese das getan hätten, in der Hoffnung, dass auch diese versagt hatten. Frauke meldete sich: „Herr Wulfinger. Sie haben angekündigt, dass die Lösung der Arbeit nicht umfangreich ausfallen würde. Ich bekomme jedoch den Eindruck, dass Sie dennoch tatsächlich eine eher umfangreiche Lösung erwarten, die in der kürze der Zeit gar nicht zu leisten war!“ „Ich möchte darauf nicht eingehen, Frauke. Ich schlage vor, du wartest erst einmal ab, ob die Musterlösung, die wir nun besprechen werden, tatsächlich zu umfangreich ist.“ Frauke gab sich nur unzufrieden mit dieser Antwort zufrieden. Auch Lars meldete sich. „Ja, Lars?“ „Also ich hab geschrieben: Deutsch ist die deutsche Staatsangehörigkeit besitzend oder deutscher Abstammung bzw. Herkunft seiend.’ Warum mehr schreiben? Ich habe das Gefühl, sie verkomplizieren hier unnötig und wir leiden darunter, weil wir ihren seltsamen Ansprüchen nicht gerecht werden!“ Wulfinger spürte, dass die Klasse unzufriedener mit der Situation war, als sie es bisher gezeigt hatte. Dennoch war er vielleicht gerade deswegen überzeugt davon, dass seine Aufgabenstellung zwar nicht gerade besonders einfach und fair gewesen war, aber dennoch lösbar und dem Leistungsniveau angemessen. „Das greift zu kurz. Denke daran, was wir zu dem Thema besprochen haben: Eine Regel war, dass nur Begriffe verwendet werden dürfen, die schon als Allgemeinbegriff eindeutig sind. Ich halte weder die deutsche Staatsangehörigkeit – die übrigens wieder nur für Personen, nicht aber für kulturelle Eigenschaften gilt – noch die deutsche Herkunft für eindeutig genug. Das mag zwar auf den ersten Blick so ausschauen, ich werde aber gleich zeigen, dass wir keine der Definition genügenden Eindeutigkeit vorliegen haben.“ Lars war damit nicht einverstanden. „Sie halten die deutsche Staatsangehörigkeit nicht für eindeutig genug? Es gibt Gesetze, die dieses regeln. Eindeutiger kann der Begriff gar nicht sein!“ „Die Lage ist leider nicht ganz so einfach. Es greifen allein vier Gesetze: Das Reichs-‐ und Staatsangehörigkeitsgesetz, das Ausländergesetz und zwei weitere spezielle Gesetze. Es gibt eine Vielzahl von Wegen, auf denen eine deutsche Staatsbürgerschaft erreicht werden kann. Unter diesen Umständen kann man, um den Ansprüchen an eine Definition gerecht zu werden, nicht von einem eindeutigen Begriff sprechen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir den Begriff deutsch nicht jedoch Deutscher definieren wollen.“ Lars hatte dem nichts mehr hinzuzufügen und der Lehrer fühlte sich nur für einen kurzen Moment sehr überlegen.
Wulfinger hielt einen Moment inne. Eine Schwalbe flog an dem Fenster vorbei und er wünschte sich, mit ihr zu tauschen. Er wusste, dass er nun seine Lösung, die ihm alles andere als überzeugend vorkam, überzeugend präsentieren musste. „Wie ich bereits eben festgestellt habe, gilt es, den Begriff deutsch als eine Objekteigenschaft zu betrachten, die Einfluss auf Personen, Tugendenden, kulturelle Besonderheiten bis hin zu einer gewissen mentalen Grundhaltung besitzt. Es ist mir wichtig, diesen Begriff von der Staatsangehörigkeit zu trennen – die Gründe dafür habe ich ja bereits genannt. So ist es durchaus denkbar, dass eine Person, die kein Deutscher ist, durch einen Aufenthalt in Deutschland, durch den Umgang mit Deutschen oder vielleicht nur durch das Lesen deutscher Literatur bestimmte deutsche Denkweisen für sich übernimmt, ohne jemals selbst Deutscher zu werden. Also, zunächst mal ist deutsch eine Objekteigenschaft, geprägt durch Sprache, Herkunft, Zugehörigkeit zu bestimmten Religionsvorstellungen und Zugehörigkeit zu bestimmten Welt- und Gesellschaftsvorstellungen. So in etwa sollten Sie ihre Definition grundsätzlich aufbauen. Nicht alle diese Merkmale müssen gegeben sein, um einem Objekt die Eigenschaft deutsch zuzuschreiben. Entscheidend ist die Andersartigkeit bzw. Abgrenzbarkeit gegenüber Objekteigenschaften anderer Nationalitäten oder Kulturräume. Allerdings müssen wir uns im Rahmen der Definition näher mit den vier genannten Merkmalen beschäftigen und diese eindeutig bestimmen, um die abgrenzenden Merkmale der Eigenschaft deutsch herauszuarbeiten.“ Wulfinger wagte einen vorsichtigen Blick auf die Uhr und registrierte zugleich, dass er anfing zu schwitzen, obwohl die Raumtemperatur dazu keinen Anlass bot. Es waren bereits 20 Minuten der Stunde vergangen. Er musste die Besprechung heute durchziehen, dass wusste er, sonst würde er sich lächerlich machen. Die Klasse blickte ihn mit einer Mischung aus Ablehnung und Erwartung an. „Fangen wir an mit der ersten Eigenschaft, der Sprache. Die Definition dieser Eigenschaft sollte jeder ohne weitere Schwierigkeiten hinbekommen: Die Objekteigenschaft ist durch die Verwendung der deutschen Sprache geprägt. Das war leicht, oder?“ Svenja meldete sich gar nicht erst, um ihren Einwand hervorzubringen: „Herr Wulfinger, damit bezeichnen sie auch Objekteigenschaften,…“ – sie sprach das Wort aus, als wäre es etwas Schmutziges – „…die zum Beispiel in Österreich durch die deutsche Sprache geprägt werden, ebenfalls als Deutsch, obwohl nur die Sprache, nicht jedoch die Eigenschaft deutsch ist. Sie wissen doch, dass die Österreicher auch Deutsch sprechen, oder?“ Wulfinger schluckte. Und nickte vorsichtig. „Das ist richtig. Die Definition einer Objekteigenschaft einer bestimmten Nationalität ist niemals einfach zu fassen. Daher müssen in der Regel mehrere Merkmale erfüllt werden, etwa die Herkunft, über die ich als nächstes sprechen möchte. Der Begriff „Schlagoberst“ – obwohl er der deutschen Sprache zugehörig ist, ist in den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland nicht bekannt, daher kann dieser Begriff nicht als deutsch bezeichnet werden. Ergänzen wird also: Die Objekteigenschaft wurde von in den jetzigen Grenzen der Bundesrepublik lebenden Personen geprägt. Wird der Begriff auf Personen selbst angewendet, so müssen diese Personen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Eine Objekteigenschaft kann also von einer in Deutschland lebenden Person geprägt werden, ohne dass diese Person selbst deutsch ist. Sprechen wir über Deutsche als Personen, müssen wir auf den Besitz der Staatsangehörigkeit zurückgreifen.“ Lars Hand war schon in der Luft.
„Ja, Lars?“ „Wieso greifen Sie nun doch auf die deutsche Staatsangehörigkeit zurück? Ich dachte diese wäre nicht hinreichend eindeutig definiert?“ „Weil ich in diesem Fall nur den Sonderfall einer deutschen Person über die Staatsangehörigkeit definiere. Ich hatte schon vorhin gesagt, wir wollen auch und gerade deutsche Objekte definieren, nicht nur deutsche Personen.“ Wulfinger fühlte, dass er sich auf unsicherem Boden bewegte. Es waren 25 Minuten vergangen und der Boden gab immer mehr nach. „Kommen wir zum dem dritten Merkmal den Begriffes deutsch: Die Zugehörigkeit zu bestimmten Religionsvorstellungen. Dieses Merkmal ist ebenfalls ohne weiteres zu fassen: Die Objekteigenschaft ist durch die vorherrschende Religion, der christlichen Religion, geprägt. Ihr seht, dass nicht alle Merkmale gegeben sein müssen, aber zumindest immer mehrere: Die Prägung durch die christliche Religion ist zwar für den Begriff deutsch nicht unerheblich, jedoch nur schwer abgrenzbar von der polnischen, italienischen oder spanischen Ausprägung der christlichen Religion. Die Abgrenzbarkeit muss zumindest bei einem der jeweils beanspruchten Merkmale wie Sprache, Herkunft, Kultur oder eben Religion gegeben sein.“ Er schwieg einen Moment und wartete auf die nächste Kritik aus der Klasse. Aber keiner der Schüler meldete sich. Läuft doch gar nicht so schlecht, dachte er isch. Wenn er noch das letzte Merkmal durchbringen konnte, hatte er es geschafft. Noch 15 Minuten. Ein Kinderspiel… „Das wichtigste Merkmal sind die Welt-‐ und Gesellschaftsvorstellungen, die in dem Kulturraum herrschen, der ein Objekt prägt und die wir für den deutschen Kulturraum definieren wollen…“ „Wie wollen Sie denn deutsche Gesellschaftvorstellungen definieren? Wie kann das auf etwas anderes hinauslaufen, als dass wir uns im Kreis drehen und feststellen, dass die deutschen Vorstellungen diejenigen sind, die in Deutschland herrschen?“ Lars lag damit eigentlich richtig. „Lars, du liegst damit falsch. Natürlich ist die Gefahr eines Zirkelschlusses hier groß. Dennoch lässt sich dieses Merkmal definieren. Zunächst mal müssen wir die Gesellschaftsvorstellungen, die in den Grenzen der Bundesrepublik herrschen, von denen der Nachbarländer abgrenzen. Ganz offensichtlich unterscheiden sich diese voneinander.“ Svenja platzte erneut hinein: „Warum eigentlich die Grenzen der Bundesrepublik? Was ist kulturellen Eigenheiten, die sich herausgebildet haben, als die DDR noch existierte und die nun an die Bundesrepublik anexiert wurden? Was ist mit ehemals deutschen Gebieten? Sind Königsberger Klopse noch deutsch oder nicht mehr? Vermutlich nicht. Aber kann eine deutsche Eigenschaft über Nacht durch politische Veränderungen, die Einfluss auf den Grenzverlauf haben, zu einer solchen werden oder diesen Status wieder verlieren, wie es in den von mir genannten Beispielen ja dann der Fall wäre?“ „Du bringst gute Beispiele, warum der Begriff deutsch so schwer zu definieren ist. Wir sollten uns jedoch darauf beschränken, eine Definition dafür zu finden, die den heutigen Begriff deutsch umfasst. Die DDR ist sicherlich ein Sonderfall, die ich auch zu Zeiten, als sie noch existiert hat, bereits als deutsch bezeichnen würde. Letztlich ist eine gewissen Tradition nötig, damit eine Eigenschaft deutsch ist. Auf diese können wir im Fall der DDR zurückblicken, im Hinblick auf die Königsberger Klopse ist diese jedoch dauerhaft und nachhaltig durchbrochen. Ähm, ja.“ Wulfinger war nicht sonderlich glücklich dem Verlauf der Klausurbesprechung und er konnte kaum noch leugnen, dass er sich mit einer unlösbaren Klausuraufgabe in eine ausweglose Situation gebracht hatte. Die Definition, die er sich auf Grundlage des
Lexikons erstellt hatte und die er eigentlich als Musterlösung präsentieren wollte, wies erheblich Mängel auf, die ihm im Vorfeld nicht aufgefallen waren. Vermutlich hatte ihn die Trennung doch mehr mitgenommen als gedacht und seine Fähigkeit zum logischen Denken getrübt. Dennoch, er musste da jetzt durchkommen. Für das Eingeständnis einer Niederlage war er sich zu stolz. Noch zehn Minuten. Er beschloss die Flucht nach vorne. „Also, Tradition. Kultur hat viel mit der Geschichte zu tun, aus der sie entstanden ist. Deswegen sollte das Merkmal Kultur folgendermaßen erfasst werden: Die Objekteigenschaft ist durch Kultur- und Gesellschaftsvorstellungen bestimmt, die Personen hervorgebracht haben, deren Eltern bereits in den Grenzen der heutigen Bundesrepublik aufgewachsen sind. Die Bezug darauf, dass die Eltern ebenfalls in der Bundesrepublik aufgewachsen sein sollten, stellt sicher, dass sich diese Kultureigenschaft quasi aus einer deutschen Erfahrung heraus gebildet hat.“ Was redete er da? Das machte doch alles keinen Sinn! Can, ein türkischstämmiger Schüler, zuckte hektisch mit der Hand. „Herr Wulfinger. Was wollen sie und denn damit sagen? Ist nur eine Tugend, die sich in mehreren Generationen in Deutschland entwickelt hat, eine gute deutsche Tugend? Was ist mit Kulturgütern, die zwar nur in Deutschland existieren aber von Ausländern hier – quasi für Deutschland – etabliert wurden? Zum Beispiel der Döner? In der Form wie wir ihn hier kennen, gab es ihn in der Türkei nicht. Der Döner entstand in Berlin-‐Kreuzberg, die heute überall gebräuchliche Drehmaschine wird in Göttingen gefertigt und weltweit exportiert. Also, was ist der Döner, deutsch, türkisch? Ich bin in Deutschland geboren, meine Eltern jedoch erst kurz davor hiergekommen. Wenn ich das Land nun mit einer Neuerung präge – ist das dann nicht deutsch? Klären sie uns auf!“ Wulfinger war erstaunt, dass Can sich dafür stark machte, mit seiner Person gegebenenfalls deutsche statt türkische Kultur zu prägen. Es war ein gutes Zeichen für den fortschreitenden Integrationsprozess in Deutschland, jedoch ein schlechtes Zeichen für seine Argumentationskette. Ihm blieben sieben Minuten Zeit, diese zu retten. „Ich kann dir in diesem Punkt nicht Recht geben, Can. Eine Objekteigenschaft kann nicht isoliert von einem Individuum allein aufgebaut werden. Entscheidend ist immer die Interaktion einer oder mehrerer Personen mit möglichst vielen anderen Personen des Kulturraumes, um die Objekteigenschaft als ein übergreifendes Phänomen zu etablieren. Der Döner entstand zunächst in einer eigenen Subkultur. Die in Deutschland lebenden Türken haben den Döner zunächst für sich erschaffen. Mit der zunehmenden Verbreitung des Döners in Deutschland kann man davon sprechen, dass es deutsch ist, eine deutsche Vorliebe ist, den türkischen Döner im dieser Form zu essen“. Can rollte mit den Augen, einige Schüler schauten Wulfinger herausfordernd an. Unvermittelt stand Lars auf und ging zu Tür, ohne den Lehrer eines Blickes zu würdigen. „Lars, du kannst den Raum nicht einfach verlassen…“ „Ich muss mal aufs Klo. Entschuldigen sie bitte. Das ist wohl erlaubt.“ Er wandte sich ab und verließ den Raum, drei Minuten vor dem Ende der Stunde. „Also, ja, ich will euch ein Beispiel nennen, das zeigt, dass gesellschaftliche Gruppen existieren, die in kultureller Hinsicht nur in sich Interagieren und damit eigenständige Kultur-‐ und Gesellschaftsvorstellungen entwickeln oder erhalten. In der Ober-‐ und Niederlausitz um Bautzen und Cottbus lebt eine nationale Minderheit, ein eigenes Volk mitten in Deutschland. Die Sorben sind ein westslavisches Volk, das eine eigene Sprache spricht und eigene Schulen und Kindergärten betreibt, um die eigene Kultur weiterleben zu lassen. Da sich die Sorben jedoch gerade in den jüngeren Generationen kaum gegen die Interaktion mit der deutschen Kultur, in die sie nun einmal leben, verwehren
können, fällt der Erhalt des sorbischen Kulturguts zunehmend schwer, wie man sich vorstellen kann.“ Einige Schüler begannen zu murmeln. Gleich mehrere Handzeichen waren zu sehen, Wulfinger seufzte innerlich, dachte noch einmal an die Schwalbe und stellte dann sich vor, weit weg an einem einsamen Strand zu liegen. Er deutete Steffen, zu sprechen. „Sie widersprechen sich selbst. Ihr Kriterium verlangt, dass die Eltern bereits in Deutschland gelebt haben sollen. Auch die Eltern der heutigen Sorben aus ihrem Beispiel haben bereits hier gelebt. Somit ist die sorbische Kultur deutsch. Dieser ganze Definitionsquatsch, diese Klausur, ihre Herangehensweise, das geht so alles nicht. Ich verlange, dass wir die Arbeit einfach als nicht geschehen betrachten und wiederholen. Ja, lassen sie uns das Thema mit einem Begriff bearbeiten, der definierbar ist, der als Begriff eindeutig existiert!“ „Genau, diese Arbeit war reine Schikane.“ Nena, die ihren Platz in der ersten Reihe hatte, sprang auf und schaute Wulfinger direkt ins Gesicht. Nur etwa ein halber Meter trennte die beiden. Ihren Augen funkelten, ihr Gesichtsausdruck war zugleich wissend und zutiefst verärgert. Höhnisch fragte sie Wulfinger direkt ins Gesicht: „Unsere Nationalhymne, das Deutschlandlied, scheint ja wohl das Prädikat deutsch zu verdienen, wie kein anderes Kulturgut. Oder was meinen Sie?“ Wulfinger nickte verunsichert. „Die Melodie dieses Lied wurde von Joseph Haydn 1797 komponiert. War Haydn Deutscher? Leider, leider nicht. Haydn wurde an der österreichisch-‐ungarischen Grenze geboren und lebte in Wien. Leider ist unsere Hymne also gar nicht deutsch, ihrer Definition zufolge. Obendrein hat er dafür Teile einer kroatischen Volksweise übernommen. Immerhin stammt der Text von Hoffmann von Fallersleben von einem Deutschen. Schade eigentlich um unsere schöne Hymne, da werden wir uns wohl demnächst eine neue suchen müssen, wenn diese gar nicht so richtig deutsch ist.“ Wulfinger war geschlagen. Seine „Disziplinarmaßnahme“ war gescheitert, die Aufgabenstellung gründlich misslungen.